LESEPROBE

Prolog

Die Teufelsfrucht

Montag, den 21. März 2005
ENSCHEDE IN DEN NIEDERLANDEN

Nur aus Gutmütigkeit fuhr Mariekje Smitderks an jedem Wochentag um sechs Uhr in der Frühe den Umweg durch die menschenleeren Straßen des neuen Wohngebietes, das auf einem Teil der abgetragenen Trümmerlandschaft im Enscheder Stadtteil Roombeek bereits fertig gestellt worden war.
Jedes Mal, wenn sie vor dem modernen Wohnhaus anhielt, um ihre Arbeitskollegin Carla abzuholen, hatte sie das Inferno vor Augen, das sich an einem schönen Mainachmittag im Jahr 2000 ereignete. Hundert Tonnen Sprengstoff waren in einer Feuerwerksfabrik explodiert. Etliche Tote waren zu beklagen und viele Menschen standen plötzlich ohne ihr Heim da.
Von hier bis zu ihrer Arbeitsstelle, in einem großen Gartencenter an der deutsch-holländischen Grenze bei Nordhorn, benötigte Mariekje in der Regel eine halbe Stunde. Der gleichförmige dauerhafte Graupelschnee, der seit einigen Stunden vom Himmel niedersank, prophezeite, dass sie heute mit der üblichen Fahrzeit nicht auskommen würde. Carla war nie pünktlich. Deswegen wollte sie sie endlich einmal vor vollendete Tatsachen stellen. Nach genau fünf Minuten Wartezeit legte sie achselzuckend den ersten Gang ein, ließ den Wagen anrollen, trat aber nach wenigen zurückgelegten Metern energisch auf die Bremse. Carla war noch sehr jung, man musste Geduld mit ihr haben.
Mariekje zog sich fluchend ihre Kapuze über den Kopf, schaltete die Scheinwerfer aus, stieg aus und stapfte in der Dunkelheit über einen schmalen, gepflasterten Weg durch den Schneematsch, vorbei an blätterlosem Gestrüpp, bis zu dem Haus, in dem ihre Arbeitskollegin ein kleines Appartement bewohnte.
Auch mehrmaliges Klingeln an der Haustür konnte sie nicht aufwecken. Möglicherweise war die Türglocke defekt und da Mariekje sich jetzt ohnehin nasse Füße geholt hatte, stieg sie kurz entschlossen die Treppe hoch, um laut an Carlas Wohnungstür zu klopfen.
Als sie mit der Faust an die weiße Kunststofftür polterte, sprang diese auf und mit Verwunderung bemerkte Mariekje, dass Carla ihre Wohnungstür nicht geschlossen hatte. Dieser Umstand verblüffte sie zwar, jedoch machte sie sich deswegen keine Sorgen. Carla war mit allem etwas oberflächlich, häufig sogar schlampig.
Mariekje trat, ohne eine Sekunde zu zögern, laut »Carla« brüllend in die hell beleuchtete, enge Diele, öffnete, noch immer laut rufend, eine Tür, blickte in ein unaufgeräumtes Bad, schrie noch einmal »Carla« und stieß die nächste Tür auf.
Sie begriff zuerst nicht, was sich ihr in dem gut ausgeleuchteten Zimmer darbot und blieb, wie zur Salzsäule erstarrt, im Türrahmen stehen, schaute genau und prägte sich das, was sie erblickte, so präzise mit allen Details ein, dass sie es nie wieder vergessen sollte.
Carla hing nackend, in halb sitzender Position, den Unterkörper seitlich verdreht, die rechte Pobacke gut sichtbar, mit gespreizten Beinen vor ihrem großen, weiß lackierten Kleiderschrank. Ihr rechtes Handgelenk war mit einem Gurt an dem metallenen Türgriff des Schrankes festgezurrt, der den Körper in die fast sitzende, unnatürliche, befremdend wirkende Pose zog.
Ich kenne solche Riemen, an denen Carlas Handgelenk gefesselt ist, schoss es Mariekje durch den Kopf.
Ihr Vater war Jäger und nutzte die kurzen, relativ breiten Lederbänder mit dem praktischen Schnappverschluss, um das Wild an den Hinterläufen aufzuhängen, bevor er ihnen das Fell abzog und sie ausweidete.
Mariekje ließ ihren Blick langsam weiter über Carlas schräg gestreckten, rechten Arm und über die nackte Schulter bis zu dem linksseitig geneigten Kopf schweifen und hielt inne, als sie das schmale, weiße Tuch bemerkte, das die Augen verdeckte. Eine Strähne ihres glatten, schulterlangen, blonden Haares hing über ihrem Mund und zwischen den weit aufgerissenen Lippen steckte ein Knäuel weinroter Spitze.
Carlas linker Unterarm berührte den blauen Teppichboden, die Innenfläche ihrer Hand zeigte nach oben und neben der Hand lag, wie ein absichtlich dekoriertes Accessoire, ein weinroter BH mit schwarzer Spitze.
Mariekje starrte noch eine längere Zeit mit weit aufgerissenen Augen auf die Würgemale an Carlas Hals, auf die Bisswunden an ihren Brüsten und auf die Striemen an den Oberschenkeln und der Pobacke, ehe sie begriff und aus Leibeskräften zu schreien begann.