LESEPROBE

Prolog

Im Traum hörte er das Echo ihrer hell klingenden Stimme. Erst als er ihre Gestalt vor Augen hatte, sprach er leise und sanft zu ihr, so wie er stets mit ihr redete, um ihr zu zeigen, dass sie ihm nahe war und er sie nicht vergessen hatte.
»Ich bin bei dir, mein Engel, und ich sehe dich«, flüsterte er. »Du hockst, ein Knie auf dem Boden und das andere Bein angewinkelt, in der Diele. Du ziehst das Ende eines langen Schuhriemens durch die vorderen gestanzten Öffnungen deiner neuen roten Stiefel. Mit deinen schlanken Fingern führst du den schmalen, harten Ansatz des schwarzen Schnürsenkels kreuzförmig, jeweils ein Loch überspringend, durch die Durchlässe an der Vorderseite des hohen Schaftes. Ab und an hebst du deinen Kopf und lächelst mich an.«
Obwohl er wusste, dass er erneut allein sein würde, sobald er versuchte, sie zu berühren, konnte er auch in dieser Nacht nicht widerstehen und streckte seinen Arm nach ihr aus, um sie dicht an sich zu ziehen.
Doch bevor seine Hand ihre Gestalt erreichte, verschwamm sie vor seinen Augen und löste sich ganz sachte auf.
Wenig später fuhr ihm der betörende Duft des Leders und der Schuhcreme in die Nase und mit der Wahrnehmung dieses Geruchs, wusste er sie hinter seinem Rücken. Im selben Augenblick fühlte er ihre streichelnden Hände, genau dort, wo er von jeher zu rund war.
Sie lachte und sprach davon, dass er zu dick sei, weniger essen und Sport treiben müsse.
Er bemühte sich, still zu sein, lauschte dem Tonfall ihrer Worte, genoss ihre Berührungen und lehnte sie gleichzeitig ab.
»Es ist ungerecht, mein Engel, dass du mich jederzeit anfassen darfst, indessen dein Körper mir sofort entgleitet, sobald ich ihn ertasten möchte«, beschwerte er sich laut und weinte, denn er ahnte, dass ihre Stimmung nicht anhalten würde, dass Wohlsein umschlagen musste in Schmerz, Liebe in Hass, Feuer in Eis.
Erst gegen Morgen besuchte sie ihn ein zweites Mal. Sie war zornig und warf ihm vor, dass sie allein sei, dass er sie nicht begleitet habe und klagte, dass ihre Füße in dem engen Schuhwerk steckten und für alle Zeit durch seine Schuld schmerzen mussten.
Mit steif gefrorenen Fingern versuchte er, die straff gezogene Schleife des Schuhriemens in einem ihrer Stiefel zu lösen. Er bemühte sich verzweifelt, den doppelt geschlungenen Knoten zu entwirren, ohne dass es ihm gelang.
Wegen seiner Unbeholfenheit trat sie ungeduldig nach ihm, schimpfte ihn einen Versager und stieß den Absatz ihres Stiefels mit letzter aufbäumender Kraft in seinen Bauch.
Er krümmte sich angstvoll vor Schmerzen, wachte schweißgebadet auf, trennte mühsam Realität und Traum voneinander, fand sich in einem zerknüllten, feuchten Bettlaken und bemerkte, dass die Absatzspitze ihres Stiefels in seine Brust drückte.

1.


Montag, den 12. Februar 2007
Osnabrück, Weststadt

Seitdem ihr Lebensgefährte Alexander Hammer die gemeinsame Wohnung verlassen hatte und bei Patricia und ihren niedlichen Zwillingen eingezogen war, verbrachte Heide jeden Montagabend in der Turnhalle. Am Mittwoch suchte sie ein Schwimmbad auf, an den anderen Wochentagen joggte sie morgens durch den Schlossgarten. Ihren Körper hatte sie in ungewohnte Hochform gebracht. An der Balance ihrer Psyche musste sie allerdings weiterhin arbeiten. Deshalb wollte sie es ihrer Schwägerin Anette gleichtun, die rechts neben ihr auf dem Fußboden der Halle lag und entspannt gleichmäßig ein- und ausatmete.
Heide schloss ihre Augen und versuchte, zu meditieren, doch es wollte ihr trotz der größten Mühe, die sie sich gab, nicht gelingen. Obwohl sie sich zwang, nicht zu grübeln, kreisten ihre Gedanken unentwegt um Alexander und um die geräumige, heiß geliebte Altbauwohnung, die sie sich gemeinsam mit ihm vor zwei Jahren gekauft hatte.
›Ich will gebraucht werden. Du brauchst mich nicht‹, hatte er ihr vorgeworfen. ›Du kommst wunderbar allein klar.‹
Recht hatte er. Soweit es ihre Detektei betraf, war sie erfolgreich. Sie hatte sich etabliert und durfte nicht klagen. Seitdem sie sich auf Wirtschaftskriminalität spezialisiert hatte, war ihr Terminkalender ausgebucht. Sie verdiente gut und arbeitete selbstständig.
Als Heide eine Hand an ihrem Arm fühlte, öffnete sie die Augen, wandte den Kopf und blickte verwundert in Elkes hübsches, verschwitztes Gesicht. Ihre Nachbarin zur Linken war aufgestanden. Sie hockte sich vor Heide, strahlte sie an, legte ihren Zeigefinger auf die Lippen, zwinkerte ihr zu und raunte: »Ich werde heute früher gehen und mir den Abschluss der Übungen schenken. Eine angenehmere Art der Körperertüchtigung liegt vor mir. In einer knappen Stunde habe ich ein Date, auf das ich mich sehr freue. Ich will vorher duschen und mir die Haare waschen. Tschüss, bis nächste Woche.«
Heide nickte zustimmend. »Viel Spaß«, murmelte sie und blickte Elke nach. Sie registrierte ihren tänzelnden Schritt, die schmalen Hüften, die schlanken Oberschenkel, die formvollendete Taille. Elke besaß die Eigenschaft, nicht nur Männerblicke auf sich zu ziehen, resümierte Heide. Davor war auch Heides Jugendfreund Dieter Fuchs, ein Kripobeamter, nicht gefeit, mit dem Elke im letzten Jahr liiert war.
Am Ausgang blieb Elke stehen und drehte sich um. Sie winkte Heide zu, nahm ihre Spange aus den langen, feuerroten Haaren, fuhr mit beiden Händen durch ihre Mähne und warf Heide einen Handkuss zu, bevor sie ihr den Rücken zuwandte und die Halle verließ.
»Es gelingt ihr nicht, Nein zu sagen, sobald ihr ein attraktiver Mann über den Weg läuft«, kommentierte Anette Elkes vorzeitigen Aufbruch.
»Konnte sie ihnen ebenso wenig widerstehen, als Dieter und sie ein Paar waren?«, wollte Heide wissen.
Irgendwann im vergangenen Jahr hatte Dieter ihr erzählt, Elke sei mit seinem Beruf nicht klargekommen. Sie habe die wechselnden Dienstzeiten eines Kripobeamten und die Überstunden nicht akzeptieren können. Natürlich war es durchaus möglich, dass Dieter sie damals angelogen hatte. Welcher Mensch gesteht der alten Liebe gerne ein, dass seine neue sich in fremden Betten vergnügt?
»Nein ...«, erwiderte Anette zögernd. »Eine feste Verbindung hat sich selten auf die Anzahl ihrer zusätzlichen Männerbekanntschaften ausgewirkt. Allerdings hat dein ehemaliger Freund, der Kommissar Fuchs, sehr bald erfahren, dass Elke ihn betrügt, worauf er die Beziehung beendet hat.« Anette schwieg einen Moment lang und fügte nachdenklich hinzu: »Ich bedauere es sehr, Heide, dass du dich von Dieter getrennt hast. In meinen Augen seid ihr das absolute Traumpaar gewesen.«
Heide hörte deutlich den ernsthaften Unterton in Anettes Stimme. Statt eine Antwort zu geben, führte sie die unumgänglichen gymnastischen Übungen aus, hob abwechselnd die Beine, spannte die Bauchmuskeln an, richtete sich auf und legte die Fingerspitzen an ihre Zehen. Dabei dachte sie an Dieter und ihr wurde warm ums Herz. Erst seitdem sie sich in einer ähnlichen Situation befand, begriff sie, wie er sich gefühlt haben musste, als sie ihm eines Tages mitgeteilt hatte, dass es einen anderen gab, einen, der sich nicht länger aus ihrem Gefühlsleben vertreiben ließ. Dieter hatte sie trotz seines Kummers fair und verständnisvoll behandelt. Sie würde sich zumindest bemühen, Alexander bei ihrem nächsten Zusammentreffen gleichermaßen großherzig gegenüberzutreten.
Heide drehte ihren Kopf, sodass sie Anettes Gesicht sehen konnte und tuschelte: »Dieter beschrieb mir sein Verhältnis mit Elke folgendermaßen: Es begann mit einem Knall und endete mit einem Donnerwetter.«
»Bei Elke beginnt jede Veränderung mit einer Explosion ihres Gefühlslebens, Heide«, raunte Anette zurück.
»Kennst du ihren Freund?«
»Elke ist verlobt und hat mir ihren Verlobten vorgestellt. Er heißt Björn Schoen und ist ihr Arbeitskollege. Er möchte unbedingt, dass sie zusammenziehen. Elke hat sein Ansinnen bisher strikt abgelehnt. Eine gemeinsame Wohnung schränke sie zu sehr ein, begründete sie ihre ablehnende Haltung, sie brauche ein Eigenleben.«
Wohnung ... Wohnung ..., schoss es Heide durch den Kopf. Sie war erneut an dem Punkt ihres wahren Seelenschmerzes angelangt. Es war dringend angebracht, bezüglich der Altbauwohnung eine Lösung zu finden, die Alex und ihr gerecht wurde. Zumindest musste sie sich bemühen, über ihren eigenen Schatten zu springen und ebenso fair handeln wie Dieter damals. Nur mit Patricia - nein, niemals -, mit der würde sie kein Wort wechseln. Gefühle waren nicht zu erzwingen und falls Alexander der Ansicht war, mit Patricia seinen Lebenstraum erfüllen zu können, wollte sie ihm nicht im Wege stehen.
Betrachtete sie ihren momentanen Seelenzustand objektiv, musste sie sich ohnehin eingestehen, dass sie Alex gar nicht mehr zurückhaben wollte. Nicht nachdem, was er ihr angetan hatte. Dieser treulose Schuft konnte ihr gestohlen bleiben! Allerdings war eine Verabredung mit ihm nicht zu verhindern. Sein Krempel stand in ihrer Wohnung, um korrekt zu sein, in ihrer gemeinsamen Wohnung. Sie musste sich ernsthaft bemühen ...
»Mir reicht es«, polterte Anette unvermittelt in Heides gute Vorsätze, »wir sind zehn Minuten über der Zeit.« Sie seufzte, setzte sich und erhob sich schwerfällig.
»Ich fühle bereits jeden Muskel in meinem Körper«, stimmte Heide ihr zu und stand ebenfalls auf.
»Laura fiebert seit heute Mittag und Christian ist schnell überfordert, sobald eines der Kinder krank ist.«
»Du verwöhnst meinen Bruder. Gibst du nicht Acht, entwickelt er sich in seinen späten Jahren zu einem Macho«, gab Heide auf dem Weg zu den Umkleideräumen zu bedenken.
»Ich vermute«, Anette kicherte, »dass er bisher ...«
Sie brach ihren Satz abrupt ab und blieb auf der Türschwelle so unvermittelt stehen, dass Heide gegen sie prallte, sie fast umrannte. Heide legte ihre Hand auf Anettes Hüfte, stellte sich auf ihre Zehenspitzen und blickte über Anettes Schulter in den Umkleideraum.
»Ist ... daas ... Elke ...?«, brachte Anette stotternd hervor.
Heide schob Anette zur Seite und stürzte in den Raum. Elke lag mit dem Hinterkopf, die Beine gespreizt und die Arme weit ausgebreitet, auf den weißen Bodenfliesen des Umkleideraumes. Sie war nackt und ihr langes Haar umrahmte ihr Gesicht wie ein grandioser Fächer.


Das Geheimnis der Rosenvilla

(C) 2011 - Alle Rechte vorbehalten

Diese Seite drucken