LESEPROBE

DAS GEHEIMNIS DER ROSEN VILLA

14.

Max hörte Katja schreien, ohne zu verstehen, was sie schrie. Sie rief sehr laut, mit schriller, kreischender Stimme und aus einer größeren Entfernung. Er rannte durch Evas Büroraum in den Korridor, wartete nicht auf den Fahrstuhl, lief ins Treppenhaus, hielt sich am Geländer fest, nahm mehrere Stufen mit einem Mal und überholte Katja, die vor ihm die Treppe nach unten gelaufen war. Hinter sich hörte er ihre Absätze klappern, erst laut und mit größerem Abstand zu ihm zunehmend leiser.

Eva war wie jeden Tag in ihrer Mittagspause allein mit dem Hund am Fluss spazieren gegangen. Nach dem Vorfall vor dem Restaurant war ein regelmäßiger – sich täglich wiederholender – Spaziergang, jeweils zur gleichen Zeit und zum selben Ort, sehr gedankenlos und leichtsinnig von ihnen gewesen. Diese Nachlässigkeit würde er sich selber niemals verzeihen. Sofort nachdem er Katjas Rufen und ihre panisch klingende Stimme gehört hatte, war er sich sicher gewesen, dass etwas Entsetzliches geschehen sein musste.

Er setzte einen Fuß auf jede zweite oder dritte Stufe, übersprang die übrigen und hatte trotzdem den Eindruck, dass die Treppe kein Ende nahm. Als er endlich das Erdgeschoss erreicht hatte, stieß er die Haustür auf, blickte erst die Straße und danach den Bürgersteig hinunter und atmete erleichtert auf, als er sie sah. Eva kauerte einige Meter von ihm entfernt im Regen auf dem nassen Pflaster, hielt Suse auf ihrem Schoß und presste ihr Gesicht an den Hundekopf. Hinter ihrem Rücken stand Toni, inmitten mehrerer Fußgänger. Er fluchte laut, gestikulierte wild und hielt dabei Evas rostbraunen Hut in einer Hand.

»Ich habe schon bei der Polizei angerufen!«, rief er Max entgegen. »Sie müssen gleich hier sein. Dieses Mal habe ich den Wagen erkannt und auch das Nummernschild. Ein blauer BMW, dreier Reihe, neuestes Modell.«

»Suse ist tot, Max«, flüsterte Eva und sah ihn mit weit aufgerissenen, trockenen Augen an, als er sich zu ihr hockte und ihr Gesicht in seine Hände nahm.

»Ich muss sie beerdigen. Sie ist tot. Ich muss sie in eine Decke wickeln und sie begraben. Sie darf nicht länger tot auf dem Fußweg liegen und von fremden Menschen angestarrt werden. Das ist so unwürdig, das hat sie nicht verdient. Es ist meine Schuld, ich hatte sie nicht angebunden. Sie mag doch nicht angeleint sein. Wenn ich sie an der Leine gehabt hätte, ich ...«

»Wir werden Suse in eine Decke wickeln. In meinem Kofferraum bewahre ich immer eine Decke auf, Evi.«

Er griff in seine Hosentasche, zog den Schlüsselbund vor und reichte ihn Toni. »Toni wird die Decke holen.«

»Du darfst sie nicht in den Kofferraum legen, Max.«

»Natürlich nicht, wir legen sie auf den Rücksitz.«

»Das ist gut«, raunte Eva und drückte ihr Gesicht zurück an den Hundekopf mit dem leeren Blick.

Max kniete sich auf das Pflaster, zog mit einem Arm Eva an sich und hielt mit dem anderen Arm den Hund, bis Toni mit der Decke zurückkam.

»Du musst Suse jetzt loslassen, Eva.«

»Ja«, sagte Eva.

Sie zog ihre Arme unter dem toten Hundekörper vor, blieb danach bewegungslos sitzen und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Straße.

»Ich schaff’ das allein mit dem Hund, Max«, flüsterte Toni ihm zu. »Wenn Eva nicht in den überdachten Eingang der Boutique gesprungen wäre, hätte der Wagen sie erwischt. Ich weiß nicht, ob sie verletzt wurde. Sie lag auf dem Rücken, als ich ihr beim Aufstehen geholfen habe.«

Er bückte sich, schob seine Arme unter den Hundekörper und hatte Mühe, mit dem Hund auf dem Arm aufzustehen.

»Lege den Hund auf den Rücksitz, Toni, nicht in den Kofferraum«, bat Max.

Er fasste mit beiden Händen unter Evas Arme und zog sie vorsichtig hoch. »Kannst du laufen, Evi?«

»Ja.«

Einen Arm um ihre Taille gelegt, hielt er Eva und sie setzte automatisch einen Fuß vor den anderen. Im Fahrstuhl umarmte er sie, drückte ihr Gesicht an seinen Pullover und bemerkte plötzlich Katja, die er vergessen hatte und die ihn verweint ansah.

»Ich habe den Lärm in meinem Büro gehört, Max. Als ich das Fenster öffnete und hinausschaute, sah ich Suse auf dem Gehweg liegen. Ich dachte, Eva wäre ...«

»Ja«, unterbrach Max sie, »das dachte ich auch, als du so laut nach mir gerufen hast.«

»Irgendjemand hat vor dem Gebäude darauf gewartet, dass Eva mit dem Hund spazieren geht, Max. Sie ist jeden Mittag mit dem Hund zum Fluss gegangen und immer zur selben Uhrzeit.«

»Eva braucht einen Arzt, Katja.«

Eva stand jetzt nicht mehr allein auf ihren Füßen. Sie war nicht sehr schwer, aber er fühlte ihr Gewicht deutlich in seinen Armen. Ihre Füße berührten nur den Fußbodenbelag des Fahrstuhls, weil er sie genau in dieser Position hielt, und er hielt sie, wie man eine leblose Schaufensterpuppe transportiert, seinen Arm unter ihre Arme geschoben, ihren schlaffen Körper eng an sich gezogen, ihr Gesicht mit einer Hand an seine Brust gedrückt.

»Du musst sofort einen Arzt anrufen, Katja.«

»Nein«, widersprach Eva.

»Doch«, antwortete Max und nahm sie auf den Arm, als der Fahrstuhl hielt und die Tür sich automatisch öffnete. Mit ihr auf seinen Armen eilte er über den Korridor bis in sein Büro und setzte sich zusammen mit ihr auf das schwarze Ledersofa.

»Nein, nein«, wehrte Eva ab und stand augenblicklich auf. »Ich muss Suse begraben. Ich glaube, sie ist tot. Ich muss sie auf unserem Tierfriedhof begraben.«

»Wir beerdigen Suse gleich gemeinsam, Eva«, beruhigte er sie.

»Wir beerdigen Suse gleich gemeinsam«, wiederholte sie monoton, blickte ihn dabei aus stumpfen Augen an und setzte sich zurück auf das Sofa, ohne den Blick aus seinem Gesicht zu nehmen.

Er musste sie aus dieser Apathie herausholen. Wenn sie nicht bald weinte oder mit ihm redete, würde er sie schlagen. Er ertrug ihr bleiches Gesicht mit den weit aufgerissenen, trockenen Augen nicht länger.

»Wir fahren mit Suse zu dir und werden sie zusammen in dem großen Garten beerdigen«, murmelte er und versuchte, währenddessen, den Kloß hinunterzuschlucken, den er im Hals fühlte.

»Hole irgendetwas zum Zudecken!«, rief er Katja zu, als er Eva die Schuhe von den Füßen streifte. »Und ein Handtuch für ihr Haar. Sie ist klatschnass«, fügte er leiser hinzu, als er ihr den Mantel auszog.

Katja brachte ihm schweigend eine Decke und ein Handtuch, lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete, wie er Eva fest in die Decke wickelte, ihr das Haar frottierte, mit seinen Händen zuerst ihre Füße und danach ihre Hände rieb, anschließend das Handtuch zur Seite warf und ihren regungslosen Körper zurück in seine Arme zog.

»Hast du einem Arzt Bescheid gesagt, Katja?«

»Ja.«

Nachdenklich ging Katja zurück in ihr Büro, setzte sich an ihren Schreibtisch, bemerkte Evas rostbraunen Hut, den Toni ihr auf der Straße in die Hand gedrückt hatte und der jetzt vor ihr auf der Schreibtischplatte lag. Der ›Alte‹ hatte mit seinen Prophezeiungen wieder einmal Recht gehabt. Sobald Eva betroffen war, verhielt Max sich nicht unnahbar und dickhäutig. Sie versuchte ihre Tränen zurückzuhalten, gab schließlich auf, dachte an den Hund, an Eva und an das, was passiert war, und weinte laut.

Max hörte Katjas Schluchzen, blickte dabei in Evas teilnahmsloses Gesicht und stand auf, um die Zwischentür zu schließen.

»Weine, Evi. Es ist etwas Furchtbares geschehen. Man hat Suse überfahren. Suse ist tot. Evi weine endlich, sage etwas! Du musst mit mir sprechen!«

Er berührte mit seinem Mund ihre Stirn und redete weiter. Er fügte mechanisch Wort an Wort, ohne über den Sinn nachzudenken, überlegte wie lange es noch dauern konnte, bis der Arzt eintreffen würde, redete dabei ohne Unterbrechung weiter, sagte ihr, wie schrecklich alles war, dass man Suse überfahren hatte, dass er sich Sorgen machte, dass er Angst um sie hatte, dass sie weinen oder schreien sollte, oder ihn schlagen.

»Sprich mit mir, ich ertrage es nicht, dass du so apathisch bist, weine endlich. Bitte sprich, sage irgendetwas.«

Er streichelte ihr Haar, ihr Gesicht und ihren Rücken, bis sie schließlich laut schluchzte und dieses trockene, entsetzliche Schluchzen, das ihm Schmerzen bereitete, in einem Weinkrampf endete.

Gott, sei Dank, dachte er, drückte schweigend ihren Kopf an seine Brust, fühlte das Beben ihres Körpers in seinen Armen, hielt sie und merkte nach langer Zeit, dass sie ruhiger wurde.

»Hast du dich verletzt, als du in den Hauseingang gesprungen bist, Eva? Katja hat einem Arzt Bescheid gegeben.«

»Ich glaube nicht«, antwortete sie und sah ihn aus verquollenen, roten, mit Mascara verschmierten Augen an, das Gesicht von schwarzen Streifen durchzogen, die Tränen und Wimperntusche gezeichnet hatten.

»Ich will keinen Arzt. Mir ist nichts passiert. Wer macht das, Max? Welcher Idiot fährt mit seinem Auto auf einen Bürgersteig, um einen Hund zu töten?«, brüllte sie plötzlich verzweifelt und trommelte mit ihren Fäusten auf seine Brust. »Wer macht das? Wer? Sie hat doch nicht Böses getan! Wer macht so etwas? Wer? Wer? Wer? Sage es mir. Wer macht das?«

Nach einer Weile wurde sie ganz ruhig, sah ihn traurig an, drückte ihr Gesicht in seinen Pullover und weinte leise in seinen Armen.

»Dieser Idiot, wie du ihn nennst, will nicht einen Hund, sondern dich töten, Evi.«

»Aber weswegen? Die arme Suse. Sie war alt und ich habe gewusst, dass ich sie nicht mehr lange bei mir haben werde. Dass sie so sterben muss, hat sie nicht verdient!«

»Ich bin froh, dass du weinst«, sagte Max erleichtert. »Wenn es dir hilft, darfst du mich stundenlang boxen, Evi. Ich habe mir Sorgen gemacht. Du warst so weit weg, nicht zu erreichen, so teilnahmslos. Mir ist es lieber, du weinst oder prügelst mit den Fäusten deine Wut und deine Verzweiflung aus dir.«

»Ich will keinen Arzt, mir ist nichts geschehen.«

»Bist du sicher?«

»Ja.«

»Dann kannst du auch mit den Polizisten sprechen, die gleich kommen werden?«

»Wenn ich mein Gesicht hergerichtet habe, spreche ich mit ihnen.«

Sie schniefte einige Male und schob Max vorsichtig zur Seite, bevor sie aufstand, ihre Handtasche aus ihrem Büro holte und in den Waschraum ging.